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Kultur - 23.10.2018

Vom Zauber des „Dazwischen“: Kunst von Sinti und Roma in Berlin

Eine Million Sinti und Roma wurden während des Holocaust ermordet. Bis heute hat die Volksgruppe gegen Vorurteile zu kämpfen. Die Berliner Galerie Kai Dikhas lässt die Sinti und Roma selbst ihre Geschichte(n) erzählen.

Gabi Jimenez: „Violon Peint“ (2010), „Guitare Potence“ (2010), „Carnet de Circulation“ 1 und 2 (2010/2011)

Sinti und Roma, laut Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) die „in Deutschland und Europa unbeliebteste Volksgruppe“, haben vielerorts gegen Vorurteile zu kämpfen: Sie gelten als „exotisch“ und „altertümlich“, als ein Volk, das ein Leben führt, das vielen fremd erscheint. Geschichten über Roma – man denke an „Carmen“, Franz Liszt und die Gemälde des als „Zigeuner-Maler“ bekannten Expressionisten Otto Mueller – verfolgten oft gute Absichten, bedienten dann aber doch alte Feindbilder. Ihre Geschichten selbst erzählen konnten Roma selten.

Die Gründung der Galerie Kai Dikhas 2011 in Berlin ist auch als Antwort darauf zu verstehen. Sie hat sich ganz den Arbeiten von Sinti-und-Roma-Künstlern verschrieben – und das mit dem Ziel, die Wahrnehmung von Europas größter Minderheit (ca. 12 Millionen) zu verändern. „Die Idee der Galerie ist es, als Plattform für die Künstler dieser Minderheit zu fungieren und so die Minderheit sich selbst darstellen zu lassen, ihre eigenen Themen und ihre eigene Perspektive“, sagt Moritz Pankok, künstlerischer Leiter und Gründer von Kai Dikhas. 

Ein „Ort des Sehens“

Der Name der Galerie bezieht sich auf ein Roma-Wort, das etwa so viel heißt wie „Ort des Sehens“. Und genau das ist auch Programm: Die Galerie will eine offene Plattform sein, auf der Interessierte mit den oft marginalisierten Sinti und Roma in Dialog treten können. Weltweit ist es die einzige Galerie, die sich ausschließlich Künstlerinnen und Künstlern dieser Herkunft widmet.

Delaine le Bas: „Performance Costume“ (2015)

Die Galerie Kai Dikhas, gelegen in Berlin-Kreuzberg, ist Teil des Aufstiegs der Kunst von Sinti und Roma, der mit dem ersten Roma-Pavillon auf der Venedig Biennale 2007 begonnen hatte: Die transnationale Ausstellung „Paradise Lost“ erregte international viel Aufmerksamkeit. Es war, wie Kuratorin Timea Junghaus im Ausstellungskatalog verkündete: „Eine neue Generation von Roma-Intellektuellen und Kunstschaffenden tritt an – und mit ihnen eine neues Bewusstsein der Roma.“

Finanziert vom ursprünglich aus Ungarn stammenden US-amerikanischen Milliardärs George Soros war der Pavillon in vielerlei Hinsicht radikal: Zum ersten Mal in der Geschichte der Venedig Biennale wurde ein Pavillon transnational zusammengestellt – er konnte sich mit 16 Künstlerinnen und Künstlern schmücken, die aus acht Ländern stammten.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Im Einsatz für Volk und Vaterland

    Viele deutsche Sinti hatten nicht nur im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich gedient, sie kämpften auch ab 1939 in der Wehrmacht. 1941 ordnete das Oberkommando „aus rassenpolitischen Gründen“ die „Entlassung von Zigeunern und Zigeunermischlingen aus dem aktiven Wehrdienst“ an. Alfons Lampert wurde danach gemeinsam mit seiner Frau Else nach Auschwitz deportiert, wo beide starben.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Vermessen und erfasst von Rassenforschern

    Die Krankenschwester Eva Justin lernte die Sprache Romanes, um das Vertrauen der Minderheit zu gewinnen. Im Gefolge des Rassenforschers Robert Ritter zog sie quer durchs Land, um Menschen zu vermessen und lückenlos als „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ zu registrieren – die Grundlage für den Völkermord. Man erforschte Verwandtschaftsverhältnisse und wertete die Taufregister der Kirchen aus.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Eingesperrt und entrechtet

    Wie hier in Ravensburg im Südwesten Deutschlands wurden Sinti und Roma-Familien Ende der 1930er Jahre vielerorts in Lagern am Stadtrand eingesperrt, umzäunt mit Stacheldraht, kontrolliert von Hundeführern. Niemand durfte seinen Aufenthaltsort verlassen. Haustiere wurden getötet, die Menschen mussten Zwangsarbeit leisten. Viele wurden zwangssterilisiert.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Deportation in aller Öffentlichkeit

    Im Mai 1940 wurden Sinti- und Roma-Familien aus Südwestdeutschland durch die Straßen von Asperg zum Bahnhof gebracht und von dort direkt in das besetzte Polen deportiert. Im Kripo-Bericht hieß es: „Der Abtransport ging glatt vonstatten.“ Für die meisten Deportierten wurde es eine Fahrt in den Tod, sie starben in Arbeitslagern und jüdischen Ghettos.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Von der Schulbank nach Auschwitz

    Karl Kling auf einem Klassenfoto der Volksschule in Karlsruhe Ende der 1930er Jahre. Im Frühjahr 1943 wurde er während des Unterrichts abgeholt und ins „Zigeunerlager“ nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er dem Völkermord zum Opfer fiel. Überlebende berichteten, dass sie schon vor der Deportation in den Schulen ausgegrenzt und teilweise gar nicht mehr unterrichtet wurden.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Die Verantwortung eines Bürgermeisters

    Der Bürgermeister von Herbolzheim beantragte 1942 die „Wegnahme“ der Sinti-Familie Spindler. 16 Familienmitglieder wurden nach Auschwitz deportiert, zwei überlebten. 60 Jahre später klärte Bürgermeister Ernst Schilling die Ereignisse auf. Die Stadt erinnert seitdem an die Ermordeten. Schilling sagt, ihm sei bewusst geworden, wie viel Verantwortung ein Bürgermeister für das Leben von Menschen habe.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Mord und Verfolgung quer durch Europa

    Wo immer das nationalsozialistische Deutschland die Herrschaft hatte, wurde die Minderheit verfolgt. Sinti und Roma wurden in „Zigeunerlager“ oder mit Juden in Ghettos wie Warschau eingeschlossen, in „Vernichtungslager“ deportiert und ermordet. Man schätzt, dass bis zu 500.000 Menschen durch Erschießungen, Gas, Verhungern, Krankheiten, medizinische Experimente oder andere Gewaltakte starben.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Lüge am Eingangstor

    „Ich kann arbeiten“, dachte der 9-jährige Hugo Höllenreiner aus München, als er 1943 wie Tausende andere mit der Familie im Viehwaggon nach Auschwitz kam. Der Schriftzug „Arbeit macht frei“ machte Hoffnung, erinnerte er sich später. Er wollte seinem Vater beim Arbeiten helfen: „Dann kommen wir schon wieder frei.“ Nur etwa jeder Zehnte der nach Auschwitz Deportierten überlebte.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Die Schwarze Wand

    Namentlich bekannt sind 54 Sinti und Roma, die 1943 vor der Schwarzen Wand im Hof des Stammlagers Auschwitz zwischen Block 10 und dem Todesblock 11 von SS-Leuten hingerichtet wurden – darunter auch Jugendliche. Im Buch „Auschwitz. Die Geschichte des Vernichtungslagers“ schreibt Susanne Willems: „Johann Betschker ermordeten sie am 29. Juli 1943, an seinem 16. Geburtstag.“


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    „Die Lagerstraße war übersät mit Toten“

    „In einer Baracke, die vielleicht Platz für 200 Menschen gehabt hätte, waren oft 800 und mehr untergebracht“, erinnerte sich Elisabeth Guttenberger, „die Hölle war das.“ 40 Baracken gab es im „Zigeunerlager“ im Abschnitt BIIe, ein Block war „die Toilette für das ganze Lager“. Franz Rosenbach, damals 15 und Zwangsarbeiter, erinnerte sich: „Die Lagerstraße von Birkenau war übersät mit Toten.“


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    „Kopf einer Leiche (12-jähriges Kind)“

    SS-Arzt Josef Mengele war Lagerarzt im Abschnitt BIIe. Er und seine Kollegen quälten zahllose Häftlinge. Sie verstümmelten Kinder, infizierten sie mit Krankheiten, forschten an Zwillingspaaren und ermordeten sie mit Spritzen ins Herz. Augen, Organe und ganze Körperteile schickte Mengele nach Berlin. Im Juni 1944 versandte er den Kopf eines 12-jährigen Kindes. Er stand nie vor Gericht.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Asche der Ermordeten

    Die Häftlinge litten an Hunger, Durst, Kälte, Krankheiten und brutaler Gewalt. Kleine Kinder und alte Menschen starben zuerst. Kranke wurden in den Gaskammern ermordet. Die Leichen wurden verbrannt. Im „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau konnte man den Rauch der Krematorien sehen und riechen. Die Asche der Toten wurde auch in solchen Teichen versenkt, wo Angehörige heute Blumen niederlegen.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Befreiung – zu spät für Sinti und Roma

    Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, traf sie dort auch auf gefangene Kinder. Für Sinti und Roma kamen die Befreier zu spät. Schon in der Nacht auf den 3. August 1944 trieb die Lagerleitung die verbliebenen Menschen aus dem „Zigeunerlager“ in die Gaskammern. Zwei Kinder kamen am Morgen nach der Mordnacht weinend aus den Baracken, sie wurden „nachgeliefert“.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Aus rassischen Gründen verfolgt

    Nach der Befreiung aus den Konzentrationslagern stellten alliierte oder deutsche Stellen Überlebenden Bescheinigungen über rassische Verfolgung und die KZ-Haft aus. Später mussten sich viele anhören, sie seien nur als Kriminelle verfolgt worden, Anträge auf Entschädigungen wurden abgelehnt. Hildegard Reinhardt hat in Auschwitz ihre drei kleinen Töchter verloren.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Hungerstreik gegen Kriminalisierung

    Anfang der 1980er Jahre wussten sich die Vertreter der Sinti und Roma keinen Rat mehr. Mit einem Hungerstreik auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau kämpften KZ-Überlebende gegen die Kriminalisierung der Minderheit und für die Anerkennung der NS-Verfolgung. 1982 stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell fest, dass Sinti und Roma Opfer eines Völkermords waren.


  • Lange verdrängt: Völkermord an Sinti und Roma

    Ort des Gedenkens in Berlin

    In der Nähe des Bundestags entstand 2012 im Berliner Tiergarten die Gedenkstätte für die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Verbände rufen besonders am Welt-Roma-Tag zum Kampf gegen Antiziganismus auf. Diese Feindseligkeit der Mehrheitsgesellschaft erleben auch heute noch viele Mitglieder der Minderheit in Deutschland und Europa.

    Autorin/Autor: Andrea Grunau


„Wir waren wirklich der erste Ort für zeitgenössische Kunst von Sinti und Roma in Europa“, sagt Pankok über die zentrale Rolle der Kai-Dikhas-Galerie für die Weiterentwicklung des künstlerischen Ausdrucks von Sinti und Roma. „Bis heute hat sich das Bewusstsein deutlich ausgeweitet.“ 

Verfolgung malen

Tatsächlich gab es 2011 noch eine weitere bedeutende Ausstellung in Berlin. „Reconsidering Roma – Aspects of Roma and Sinti Life in Contemporary Art“ zeigte Roma-Künstler und Holocaust-Überlebende: Der österreichische Roma-Schriftsteller Karl Stojka und seine Schwester, die Malerin Ceija Stojka, legten das Augenmerk auf die verheerenden Konsequenzen des Massenmords der Nationalsozialisten an ihrer Gemeinschaft (der von der deutschen Regierung erst 1982 offiziell anerkannt wurde).

Delaine le Bas: „Witch Hunt“ (2009–2011)

Die 2013 verstorbene Ceija Stojka – bekannt für ihre Bilder von den Todeslagern der Nazis, aber auch für ihren Bericht als Holocaust-Überlebende „Wir leben im Verborgenen“ – erzielt mittlerweile hohe Preise auf dem Kunstmarkt.

Im Mai 2018 präsentierte Kai Dikhas eine Schau von Stojkas expressionistischen Werken, die oft die tristen, erschreckenden „Landschaften“ des Holocaust zum Thema haben. Es war die siebte Ausstellung von Stojkas Arbeiten in der Galerie. Sie fand zeitgleich mit einer Stojka-Retrospektive im renommierten „Maison Rouge“ in Paris statt. Ihr Titel: „Ceija Stojka – Roma-Künstlerin des 21. Jahrhunderts“.

„Es waren hunderte Besucher, Kritiker und Sammler da – die ganze Pariser Kunstszene“, erinnert sich Pankok. „Die Leute realisierten, dass Ceija Stojka nicht nur ein Opfer war oder jemand, der Zeugnis ablegte von der Verfolgung der Roma während des Genozids. Sondern dass sie einfach eine großartige Künstlerin war.“

Ceija Stojka: „Die Angst war groß hinter dem Stacheldrahtzaun im KZ Auschwitz“ (2009)

Moritz Pankok stammt aus Mülheim an der Ruhr in Westdeutschland. Für die Gründung der Galerie Kai Dikhas scheint er prädestiniert gewesen zu sein: Er ist der Großneffe des expressionistischen Malers Otto Pankok aus der Weimarer Ära, der für seine Holzdrucke und Kohlezeichnungen deutscher Sinti bekannt wurde.

Die eigene Geschichte schwingt mit

„Er wurde als Künstler von den Nazis verfolgt und als entartet diffamiert. Seine Werke waren Teil der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ in München“, erzählt Pankok. „Er setzte sich mit den Sinti auseinander, porträtierte ihre Siedlungen in der Umgebung von Düsseldorf, und führte die Arbeiten auch während des Nazi-Regimes fort.“

Peter Pichler: Ceija Stojka auf einem 10-Euro-Schein

Otto Pankok dokumentierte die Verfolgung der Sinti durch die Nazis. „Mit seinen Kohlezeichnungen wurde er zu dem Künstler, der die Verfolgung der Menschen porträtierte, die im Holocaust umgebracht wurden. Dafür ist er unter den Sinti bekannt“, so sein Großneffe. 2010 stellte Moritz Pankok die Werke seines Großonkels in Berlin aus, als Teil des „Monats der Roma, Sinti und Fahrenden Leute“ im britischen Greenwich.

„Wir sind Magier“

Ab dem 23. Oktober zeigt die Galerie Kai Dikhas jetzt Arbeiten von Lita Cabellut, einer gefeierten spanischen Sinti-Künstlerin, die auch schon bei der Eröffnungsausstellung 2011 dabei war. Die Katalanin, die in den Niederlanden wohnt und als Sinti-Weise in den Strassen Barcelonas aufwuchs, wurde mit ihren ausdrucksvollen Ölgemälden – darunter auch Porträts von Frida Kahlo und Billie Holiday – international ausgestellt. „Ich bin besessen von der Idee, Menschlichkeit zu malen“, sagte sie einst.

In einem Interview mit dem Literaturmagazin „Southeast Review“ bestärkte Lita Cabellut werdende Roma-Künstler: „Wir sind außergewöhnlich, wir haben das Kreative in unserem Blut, wir sind Magier in einem ‚Raum des Dazwischen‘, zwischen einem Stern und dem anderen.“ Dieser Esprit hat ihr Werk weiter befeuert. „Kommerziell gesehen ist sie die erfolgreichste unserer Künstlerinnen“, so Pankok.

Lita Cabellut: Ölgemälde der berühmten spanischen Flamenco-Sängerin Camarón de la Isla

Ihre großformatigen figürlichen Gemälde waren zuletzt in der Inszenierung einer Rossini-Oper zu sehen, für die sie das Setdesign kreierte und darin auch acht ihrer eigenen Arbeiten zeigte. „Diese acht großformatigen Werke werden wir ausstellen, hier in der Galerie und im Dokumentations-Zentrum für Sinti und Roma“, erklärt Pankok. „Es wird eine wirklich wichtige Ausstellung. Wir werden für die Künstlerin den roten Teppich ausrollen, denn sie ist die erfolgreichste Künstlerin der Sinti und Roma.“

Die Galerie Kai Dikhas verspricht, wichtige und ungehörte Geschichte(n) zu erzählen – auch die von der Magie der Kreation im „Dazwischen“.

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