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Sport - 11.11.2018

„Ich habe es versaut“ – Die tränenreiche Beichte eines Multimillionärs

Mit einem furiosen Knock-out endet die Karriere von Tony Bellew. Der britische Boxer legt nach seinem letzten Kampf einen bewegenden Auftritt hin. Bellews Promoter kam die Niederlage sehr recht. 0

Tony Bellew verteilte Küsschen. Er schmatzte jeden ab, der ihm im Ring über den Weg lief. Seinen Gegner, dessen Promoter, sein halbes Team. Bellew wirkte rundum glücklich nach dem WM-Kampf im Cruisergewicht gegen den Ukrainer Aleksandr Usyk. Er wirkte kein bisschen wie jemand, der Minuten zuvor nach einer krachenden Linken ans Kinn zu Boden gesackt war: Knock-out in der achten Runde.

Für Usyk markierte der spektakuläre Sieg den Beginn einer neuen, glanzvollen Ära. Für Bellew bedeutete der Schlag das Ende seiner Karriere. Doch das wurde ihm erst später richtig klar.

Der Boxer aus Liverpool hatte den Kampf um die Gürtel der vier wichtigsten Boxverbände (WBC, IBF, WBA, WBO) in der Arena von Manchester furios begonnen. Der 35-Jährige hatte Usyk in den ersten Runden regelrecht mit Faustschlägen eingedeckt, hatte sich gut bewegt und seinen vier Jahre jüngeren Konkurrenten aus der Ukraine mit seiner Schlagkraft überrascht. „Ich musste einiges einstecken“, gab Usyk zu. Zwei der drei Punktrichter hatten den Herausforderer sogar in Führung liegend gesehen.

Usyk brauchte eine Lösung. Und er fand sie. Ab der fünften Runde trieb er Bellew regelrecht durch den Ring, schnitt ihm den Weg ab und engte seinen Aktionsradius immer weiter ein. In Runde acht hatte er ihn weichgekocht. Mit einer harten Kombination schickte er den Engländer in den Ringstaub. Bellew klappte nach hinten und fiel in die Seile. Der Ringrichter zählte ihn gar nicht mehr an. Der Kampf war vorbei.

Die Halle, die Bellew zuvor frenetisch angefeuert hatte, verstummte. Die 21.000 Zuschauer waren geschockt. Bellew hatte vor dem Kampf angekündigt, nach dem letzten Gong in den Ruhestand zu gehen. Dass er überhaupt noch mal zu diesem Gefecht antrat, war an sich schon eine Sensation: Vor einigen Monaten hatte er sich noch als „fat scouser“ bezeichnet, als Typ aus Liverpool, der sich mit einer Menge Übergewicht herumplagt. Sein Promoter Eddie Hearn erklärte das so: „Der letzte Boxer, gegen den ich ihn hätte fighten lassen wollen, war Aleksandr Usyk. Aber Tony konnte nicht widerstehen. Er hätte es sich nie verziehen, diesen Vergleich auszuschlagen.“

Es wurde der beste Fight in Bellews sportlicher Laufbahn. Zwei Stunden nach dem Kampf saß er mit geschwollenem Gesicht im Bauch der Arena und realisierte erst jetzt, dass alles vorbei war. „Ein Teil von mir ist enttäuscht, dass ich es versaut habe“, sagte Bellew. „Aber ich habe heute gegen den besten Kämpfer verloren, dem ich je gegenübergestanden habe. Und ich sage es ganz ehrlich, ich war irgendwann müde. Ich war wirklich sehr müde.“ Dann kamen ihm die Tränen.

„Ich habe viele Fehler gemacht“

Ungefragt erzählte er den verdutzten Journalisten von seinem nicht gerade einfachen Leben. Er fiel in die Gossensprache seiner Kindheit zurück, irgendwann waren seine Sätze vor lauter Schimpfwörtern kaum noch zu verstehen. Als ob er nun, nachdem alles vorbei war, über sich selbst richten müsste. Er sagte, dass er „schreckliche Dinge“ getan habe. „Ich habe viele Fehler gemacht.“

Bellew kommt aus schwierigen Verhältnissen, die Schule brach er ab, das Boxen fing ihn auf, als seine Biografie schon im freien Fall war. Er erzählte davon, wie er einst einem Lehrer ins Gesicht schlug, nachdem der ihn der Schule verwiesen hatte. Wie er von einem früheren Promoter übers Ohr gehauen worden war, wie er in Geldnöten steckte und seine Scham ihn immer wütender machte. Bellew saß da, geschunden, geläutert, geknickt und doch stolz. „Alles, was ich erreicht habe, habe ich durchs Boxen erreicht. Alles, was ich kann, ist, andere Leute zu verprügeln.“

Es war die bewegende Beichte eines Multimillionärs. Der anstehende Ruhestand wird ihm zusätzlich mit vier Millionen Pfund (4,6 Millionen Euro) versüßt, die er für seinen letzten Kampf einstrich. In den ging er als der klare Außenseiter, die größte Sensation war, dass er überhaupt antrat.

Doch die Aussicht auf den ersten Fight auf britischen Boden unter Beteiligung eines „undisputed champion“ war für Bellews geschäftstüchtigen Promoter Eddie Hearn zu verlockend. Dass an diesem Abend in Gestalt von Usyk die Titel aller vier namhaften Boxverbände zur Disposition gestanden hatten, das hatte es auf britischem Boden noch nie gegeben. Es war überhaupt erst der sechste Kampf dieser Art in der Boxgeschichte (drei davon gingen auf das Konto des Amerikaners Bernard Hopkins).

Britische Box-Dominanz

Promoter Hearn gelang nun dieses Kunststück, was für die aktuelle Dominanz des britischen Boxens spricht, aber auch für das Vermarktungsgeschick des 39-Jährigen, der hinter den Kulissen weiter daran werkelt, dass es bald auch im Schwergewicht wieder einen „undisputed champion“ gibt. Dafür muss Hearns prominentester Boxer, Anthony Joshua, entweder gegen Deontay Wilder oder Tyson Fury gewinnen. Letztere schlagen sich am 1. Dezember in Los Angeles um den Gürtel der WBC – den einzigen, der Joshua noch in seiner illustren Sammlung fehlt.

Ein Vereinigungskampf gegen Wilder oder Fury auf englischem Boden wäre ein Coup; er würde die Macht der beiden mit Hearns Firma Matchroom Boxing kooperierenden TV-Sender Sky und DAZN weiter stärken und den Boden bereiten, um bald auch den amerikanischen Markt anzugreifen.

Entsprechend zufrieden zeigte sich Hearn. „Das war heute einer der größten Kämpfe, die England je erlebt hat, und für uns ein sehr wichtiger Schritt in die Zukunft.“

Dass er diese Zukunft auf dem amerikanischen Markt nicht zuletzt auch mit Usyk zu gestalten gedenkt, daraus machte er keinen Hehl. Er empfahl dem Ukrainer öffentlich einen Wechsel in die Schwergewichtsklasse. Und der 31-Jährige aus Semferopol hat sich offenbar mit dem Gedanken schon angefreundet. „Ja, ich würde gerne ins Schwergewicht wechseln“, räumte er ein. „Und ja, natürlich würde ich dort gerne den Titel holen. Aber das ist alles noch sehr weit weg.“

Bellews künftige Pläne? Fußball spielen!

Usyk will erst mal Urlaub machen mit seiner Familie. In der Heimat. Dort war er in den vergangenen Jahren nur selten. Alle großen Titelkämpfe bestritt er auf fremdem Territorium. Auch das macht ihn so stark. Usyk ist nicht nur ein physisch imponierender Boxer, er ist daneben auch ein brillanter Stratege und mit einer fast schon unheimlichen mentalen Stärke gesegnet.

Seinen Tag beginnt er gerne mit einem Kirchenbesuch, er läuft im Hotel schon mal mit der Bibel herum, und in der Vorbereitung auf den Kampf schläft er gerne auf dem Boden im Stroh. So verliere er den Fokus für das Wesentliche nicht. „Ich bin eine ganz normale Person, und ich bete jeden Tag dafür, dass ich bescheiden bleibe.“

Usyks Hobbys sind ebenso branchenuntypisch. Er tanzt gerne, und wenn er nicht gerade betet, schreibt er Gedichte. Über die Liebe, an seine Frau oder über Missstände, die ihn plagen. „Er ist schon etwas schräg“, gab Hearn zu Protokoll. „Aber er ist auch ein Genie.“

Bellew hingegen will sich demnächst ganz und gar weltlichen Vergnügungen hingeben. Der bekennende Fan des FC Everton sagte zu seinen Zukunftsplänen: „Ich kann es kaum erwarten, endlich mal wieder Fußball spielen zu gehen.“

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