Home Politik Renate Künast im Interview: „Die AfD hat sich übers Internet international vernetzt“
Politik - 16.11.2018

Renate Künast im Interview: „Die AfD hat sich übers Internet international vernetzt“

Um Hass im Internet auf den Grund zu gehen, hat Grünen-Politikerin Renate Künast die Absender besucht – manchmal mit mulmigem Gefühl. „Das sind ja wirkliche Hassstürme.“

Jetzt teilen:

MAINZ – Auf Einladung des Landtagspräsidenten Hendrik Hering ist die Bundestagsabgeordnete Renate Künast (Grüne) in Mainz, um bei der Veranstaltung „Disst du noch oder diskutierst du schon?“ vor Jugendlichen zu sprechen.

Frau Künast, ist das Problem verbaler Gewalt derzeit besonders aktuell, wird heute mehr gedisst als vor zehn Jahren?
Für Politiker hat sich die Situation ganz erheblich verändert. Die Rechtsextremen haben sich in den letzten Jahren neu organisiert. Die AfD hat sich über das Internet international vernetzt. Das konnten frühere rechtsextreme Gruppen nicht. Und sie haben teilweise – wie wir aktuell sehen wegen der Parteispendenaffäre um Alice Weidel – mit viel Geld aus dem Ausland Likes gekauft. Dadurch haben sie den Eindruck erweckt, dass sie viele sind. Das haben die Rechtsextremen systematisch gemacht, und deshalb muss man sagen: Ja, heute wird viel mehr gedisst als noch vor vier, fünf Jahren. Aber das Wort „gedisst“ passt eigentlich nicht. Das sind ja wirkliche Hassstürme.

Sie haben im vergangenen Jahr begonnen, die Absender zu suchen und einfach mal an der Tür zu klingeln. Wie sind Sie darauf gekommen?
Ich war 2016 bei einer Sendung „Hart aber fair“, direkt nach der so unglücklichen Silvesternacht in Köln, und danach hatte ich bei Facebook 270 Posts. Einer schrecklicher als der andere. Dann haben wir eine Menge Strafanträge und Strafanzeigen gestellt. Und als das Thema immer weiterging, habe ich im Gespräch mit der Journalistin Britta Stuff gesagt: Mensch, man müsste mal da hingehen und klingeln. Und nachdem beide gesagt hatten, man müsste mal, haben wir gedacht: Jetzt müssen wir auch. Also haben wir uns Leute und Adressen herausgesucht – was schon eine Aufgabe war, weil viele ja versuchen, sich zu anonymisieren.

Was war Ihre größte Überraschung bei den Besuchen?
Wir waren bei einem Wassermeister aus Potsdam, der dann sagte, er hätte AfD gewählt. Und bei allem, was er so erzählt hat, fiel mir eins auf, er sagte nämlich am Ende: „Kümmert sich eigentlich auch mal jemand um uns?“ Wenn man sich anschaut, mit was sich Politik beschäftigt, was man in der Tagesschau sieht – entweder sind es Skandale und persönlicher Mist, oder Geschichten über die EU und die Welt. Da hatte er das klare Gefühl, um ihn und um den Alltag der Menschen hier würde man sich gar nicht kümmern. Ich habe selber nachher anders Tagesschau geschaut und gedacht: Wo war jetzt die Debatte über Pflege, über Kindergärten, über Gehälter für Erzieherinnen? Das war mir ein Aha-Erlebnis.

Gab es eine Tür, an der Sie im Nachhinein lieber nicht geklingelt hätten?
Wir hatten zwischendurch das Gefühl: Jetzt sind wir doch mutig, weil es könnte auch mal einen auf die Zwölf geben. Wir waren einmal in einem Wald ein Stück nördlich von Berlin. In einer Gegend beim Jagdschloss Hubertusstock, der früheren Jagdresidenz des Kaisers und später von Honecker. Und da gab es so ein kleines Häuschen, früher gehörte es Honeckers Chefsekretärin, das sich ein Berliner umgebaut hat. Das Navi hatte das Gebiet schon als weiße Fläche identifiziert, da gab es auch keinen Weg mehr. Vor dem Haus stand ein alter Trabi in Bundeswehr-Camouflage. Da habe ich gesagt: Wir kehren das Auto schon mal um, damit wir zur Not schnell wegkönnen. Aber am Ende war es nie so aggressiv.

Haben Sie mögliche Hasskommentare bei ihrer Arbeit im Hinterkopf oder können Sie das ausblenden?
Nein, ich weiß das. Ich blende gar nichts aus. So wie ich immer überlege, wo uns eine bestimmte Reform in den nächsten zehn Jahren hinführt, habe ich auch so etwas im Kopf. Und dann komme ich ins Büro und sage „Leute, ich habe gerade so ’nen Tweet abgesetzt. Das wird wieder lustig“. Die Antwort lautet oft: „Ja, wir haben das schon gesehen – die Ersten sind schon da.“ Aber ich überlege etwa bei Straftaten jetzt länger, ob und was ich schreibe. Weil die Leute gar nicht diskutieren wollen. Sie warten nur darauf, einen Eimer Häme auszuschütten. Oder zu sagen: „Von dir würden wir auch gerne Enthauptungsvideos sehen.“ Dann ist man sprach- und fassungslos. Was sind das eigentlich für Menschen?

Glauben Sie, dass eine Politikerin wie Alice Weidel von der AfD ähnliche Hasskommentare von Linken bekommt wie Sie von Rechten?
Ich weiß nicht, ob sie das genauso hat. Dass sie einige bekommt, sehe ich schon. Ich entschuldige nichts davon. Man macht so was nicht, wenn man halbwegs Anstand hat. Es gibt allerdings einen strukturellen Unterschied: Die einen werben dafür Geld ein, um sich Likes zu kaufen, Accounts zu betreiben, um den Hass auszuschütten, und setzen das als gezielte politische Strategie ein. Sie wollen alle Politikerinnen und Politiker madig machen – sie würden sich alle selbst bedienen. Und die Rechten wollen damit das demokratische System aushöhlen und zersetzen.

Wie hat sich die Debattenkultur im Bundestag durch die AfD geändert?
Wir waren am Anfang schockiert. Weil die AfDler ohne jeden Anstand jede Sitzung irgendeine Provokation oder Diskriminierung raushauten. Auch eine Alice Weidel, die selber lesbisch ist, kennt da nichts. Am Anfang haben sich immer alle anderen dazu geäußert. Ich habe zu meinen Kolleginnen und Kollegen gesagt: Hier steht es immer 1:5, das geht so nicht. Man sieht nicht mehr, dass wir Anderen auch differenzierte Positionen haben. Und wir bedienen immer deren Thema. Seitdem haben wir vereinbart, dass auf die Provokationen nur einer reagiert, da wechseln sich die Parlamentarischen Geschäftsführer ab, und dann sagen wir: Jetzt arbeiten wir wieder.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Check Also

Handelskrieg bremst Chinas Wirtschaftswachstum

Entspannung im Handelskonflikt zwischen den USA und China ist nicht in Sicht. Die chinesis…