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Politik - 22.05.2019

Dreyer: „Die Rechten setzen um, was sie ankündigen“

Ministerpräsidentin Malu Dreyer hat anlässlich 70 Jahre Grundgesetz die Bürger gemahnt, wachsam zu bleiben. Der Staat müsse wehrhaft bleiben, wenn es um den Schutz der Verfassung gehe.

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MAINZ – Wie ein Fels in der Brandung steht das Grundgesetz seit 70 Jahren. Doch das ist nicht selbstverständlich, sagt Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Der Staat müsse wehrhaft bleiben.

Frau Ministerpräsidentin, das Grundgesetz feiert 70. Geburtstag. In welcher Verfassung ist die Verfassung?

In einer sehr guten. Ich habe einen hohen Respekt vor den Müttern und Vätern unseres Grundgesetzes, die vor 70 Jahren eine wunderbare Grundlage für unsere Demokratie geschaffen haben. Das Grundgesetz hat nichts an Aktualität verloren, es formuliert in einfachen Sätzen Grundwerte, die Bestand haben. Auch ist unsere Verfassung nicht starr.

Allerdings wird immer mehr in die Verfassung reingepackt. Derzeit gibt es viele Wünsche aus der Politik: Kinderrechte, Klimaschutz, Bund-Länderbeziehungen, Digitalisierung…

Man sollte schon sparsam mit Änderungen sein. Bei der Digitalisierung beispielsweise denke ich, dass die Grundlage bereits besteht und aus der analogen in die digitale Welt übertragen werden kann. Die informationelle Selbstbestimmung ist ja in der Verfassung verbürgt.

Warum sollen Kinderrechte aufgenommen werden? Es heißt doch in Artikel 3, Abs. 1: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Das betrifft ja auch die Kinder.

Da habe ich eine andere Meinung. Als das Grundgesetz geschaffen wurde, war das Verhältnis Eltern-Kinder oder Erzieher-Kinder ein vollkommen anderes. Aus Sicht der Kinder war das nicht auf Augenhöhe, es war unvorstellbar, dass Kinder eigene Rechte haben. Etwa ein Recht auf Bildung.

Vor dem Hintergrund der Weimarer Republik gingen die Mütter und Väter des Grundgesetzes sehr vorsichtig mit dem Thema direkte Demokratie um. Warum hier nicht mehr Mut? Die Schweiz zeigt doch, wie es erfolgreich geht.

Die Verfassungen sind nicht vergleichbar. Wir haben eine repräsentative Demokratie, in der Schweiz ist es eine direkte Demokratie. Man kann trotzdem immer wieder schauen, wie man die Bürger stärker beteiligen kann. Das haben wir etwa beim Transparenzgesetz, dem Nahverkehrsgesetz oder dem Klimaschutzgesetz gemacht. Auf lokaler Ebene haben wir viele Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, auf Landesebene sind die Quoren für Volksbegehren höher.

Männer und Frauen sind gleichberechtigt, heißt es in Artikel 3, Absatz 2. Wie weit sind wir von der Erfüllung dieses Anspruchs noch entfernt?

Es wurde schon viel erreicht, aber wir sind von der Erfüllung noch weit weg. Wir haben noch große Baustellen: gleichberechtigte Teilhabe in der Politik, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. Gewalt gegen Frauen bleibt ein großes Thema. In Rheinland-Pfalz hatten wir im Jahr 2017 insgesamt 6 200 Fälle von Gewalt gegen Frauen in engen sozialen Beziehungen. Das ist immer noch ein großes Tabu in der Gesellschaft.

Ist die Parität auf Wahllisten von Parteien die Lösung für mehr Gleichberechtigung? In Brandenburg gibt es ernsthafte Bedenken, ob das verfassungskonform ist.

Diese Bedenken muss man sich genau anschauen. Ich denke dennoch, der Bundestag sollte im Zuge der Wahlrechtsreform nach einer verfassungsfesten Lösung suchen, die sicherstellt, dass Frauen nicht länger unterrepräsentiert bleiben. So könnte man bei der Besetzung des Parlaments auf die Quote schauen. Das sollte man wagen. Es wäre ein gesellschaftspolitisches Signal.

Es gibt eine von Juso-Chef Kevin Kühnert ausgelöste Debatte um Enteignung von Wohnraum oder Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien. Zwar kann man das theoretisch aus dem Grundgesetz ableiten. Aber mal praktisch: Wird denn eine einzige Wohnung neu gebaut, wenn bestehende Wohnungen den Eigentümer wechseln?

Natürlich treibt die Gerechtigkeitsdebatte viele um. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander. Diese Art von Enteignungen und Vergesellschaftung sind jedoch für mich und die meisten Sozialdemokraten der vollkommen falsche Vorschlag.

Welche Gefahren lauern auf das Grundgesetz?

Wir haben eine sehr starke Demokratie, und das Grundgesetz ist da auch ein Garant. Doch das ist kein Automatismus. Wir müssen als Gesellschaft wachsam bleiben, dafür eintreten, und als Staat müssen wir wehrhaft sein, wenn es darum geht, die Verfassung zu schützen. Die größte Gefahr besteht darin, dass sich die Menschen nicht genügend für die Werte im Grundgesetz engagieren.

Im Grundgesetz steht: Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Wichtiger denn je, wenn man nach Österreich, zur FPÖ schaut?

Wir können froh sein, dass die Pressefreiheit im Grundgesetz festgeschrieben ist. Die Gleichschaltung der Medien war im Dritten Reich der Vorläufer zu den schrecklichen Menschheitsverbrechen. An den Beispielen Österreich, Polen oder Ungarn sieht man, dass die Rechtspopulisten das umsetzen, was sie ankündigen, nämlich die Presserechte zu beschneiden. Die Angriffe der FPÖ auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich zeigen, dass man die Ankündigungen von Strache aus dem Video auch umsetzen wollte. Das Wort „Lügenpresse“ gab es übrigens schon unter den Nazis.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht in Artikel 1, Absatz 1 – was bedeutet dies für unseren Umgang mit Flüchtlingen?

Dieser Grundsatz gilt für alle, unabhängig davon, ob Menschen ein dauerhaftes Asylrecht haben oder nicht. Auch diejenigen, die nicht bleiben dürfen, müssen unter menschenwürdigen Umständen gehen können. Die Würde des Menschen umfasst aber auch, dass wir nicht zuschauen dürfen, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken. Als erste Maßnahme nach den EU-Wahlen muss die Seenotrettung sofort wieder aufgenommen werden.

Das Interview führte Markus Lachmann.

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