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Kultur - 27.01.2019

Wie der Begriff „Holocaust“ nach Deutschland kam

Der 27. Januar ist ein offizieller Gedenktag – in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. In vielen Ländern heißt er Holocaust-Gedenktag. Nach Deutschland kam der Begriff erst 1979 durch eine TV-Serie.

1979 kam die Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ ins deutsche Fernsehen

Gespannt schalteten Millionen von Zuschauern in Westdeutschland am Abend des 22. Januar 1979 den Fernseher ein. Die Straßen in den Städten waren menschenleer. Was das Fernsehpublikum an diesem Tag und auch an den nachfolgenden Abenden zuhause vor dem Bildschirm erlebte, war ein medienhistorisches Ereignis.

Noch nie zuvor hatte ein Film oder eine Fernsehsendung den zuvor eher abstrakt bezeichneten „Völkermord an den Juden“ aus der Perspektive der Opfer dargestellt. Tief erschüttert riefen noch in der Nacht Tausende von Zuschauern in den Sendern an. Noch Wochen nach der Ausstrahlung stapelten sich in den Gängen des WDR-Filmhauses Kisten voller Zuschauerpost.

Gezeigt worden war die US-amerikanische Fernseh-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“, mit dem späteren Hollywoodstar Meryl Streep in der weiblichen Hauptrolle. In den deutschen Medien wurde heftig und kontrovers über die Serie diskutiert. Die Hauptfrage war, ob eine solche Form der Darstellung zu einer Trivialisierung der Geschichte führen könnte.

Heftige Kritik: Familiendrama oder Soap-Opera?

In Amerika, wo „Holocaust“ zum ersten Mal im Frühjahr 1978 bei NBC gesendet wurde, erreichte das mehrteilige Fernsehdrama auch US-Bürger, die sich sonst nie für Geschichte interessiert und bislang nichts von der systematischen Judenvernichtung in Europa gehört hatten. Den geplanten Massenmord der Nazis hatten sie für eine propagandistische Übertreibung gehalten.

Szene aus der Serie „Holocaust“: Juden werden in ein Konzentrationslager deportiert

Regisseur Marvin J. Chomsky hatte die Spielszenen des Mehrteilers erstmals mit Original-Dokumentaraufnahmen aus der Nazizeit versetzt – in schwarz-weiß. Eine ganz neue Form des „Doku-Dramas“, wie es später auch im deutschen Fernsehen sehr beliebt wurde. Nach dem überragenden Erfolg des Sklaven-Epos „Roots“, das der Konkurrenz traumhafte Einschaltquoten beschert hatte, wollte NBC mit diesem spektakulären TV-Drama verlorene Zuschauer zurückholen.

Der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel, der sich die 428 Minuten der Serie im amerikanischen Fernsehsender NBC angeschaut hatte, war damals vor der Ausstrahlung der Serie in Deutschland äußerst besorgt, dass der millionenfache Mord an den europäischen Juden auf das Schicksal einer einzelnen jüdischen Familie reduziert wird. In einem Gastbeitrag in der „New York Times“ schrieb er: „Ich bin entsetzt bei dem Gedanken, dass einmal der Holocaust gemessen und beurteilt werden könnte anhand dieser NBC-Fernsehproduktion, die diesen Namen trägt.“

Dreharbeiten im Konzentrationslager

Das Drehbuch, verfasst vom amerikanischen Schriftsteller Gerald Green, erzählt die fiktive Geschichte zweier Familien: die der deutsch-jüdischen Arzt-Familie Weiss, die als assimilierte Juden in Berlin leben. Und parallel die Familiengeschichte des deutsch-nationalsozialistischen Juristen Erik Dorf. Anfangs zögerlich, aber angetrieben von seiner ehrgeizigen Frau, passt sich Dorf den neuen Verhältnissen an und steigt in kurzer Zeit zum Stellvertreter Reinhard Heydrichs auf – dem brutalen Organisator der Judenvernichtung.

Zum ersten Mal zeigt die TV-Serie die Seite der jüdischen Opfer auf ganz persönlicher Ebene. Keine abstrakten Zahlen, keine Pauschalisierung. Die Zuschauer konnten jede Etappe der anfänglichen Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger, der Deportationen und am Schluss das Sterben der Opfer in der Gaskammer miterleben – hautnah. 

Lagermauer mit Gedenktafeln im KZ Mauthausen

Gedreht wurde die TV-Serie vor allem in Österreich – nur dort war eine Drehgenehmigung für die Außenaufnahmen in SS-Uniformen zu bekommen – und in Deutschland. Zum Teil sogar an Originalschauplätzen des Holocaust: im Konzentrationslager Mauthausen und in Hadamar, wo die Nazis Zehntausende von geistig behinderten Menschen vergasen ließen.

Die Tochter der Familie Weiss, Anna, wird nach einer Massenvergewaltigung durch SA-Männer dorthin gebracht und von dem Pflegepersonal der Anstalt ermordet. Die Schauspieler, zum größten Teil bekannte britische und amerikanische Theaterschauspieler, konnte die Nähe zu den Mordstätten der Nazis und die Authentizität der historisch unterlegten Geschehnisse kaum ertragen.

US-Schauspieler Michael Moriarty, der den Nazi-Aufsteiger Dorf spielt, brauchte während der Dreharbeiten psychiatrische Hilfe, weil er nachts nicht mehr schlafen konnte. „Um es gut zu machen, muss man sich öffnen“, erzählt er in der aktuellen TV-Dokumentation „Wie ‚Holocaust‘ ins Fernsehen kam“ (WDR/2019), die als Begleitprogramm zu der Neu-Ausstrahlung der TV-Serie im Januar 2019 zu sehen war. „Und wenn man die furchtbarsten Dinge, die es gibt, in sich hinein lässt, leben sie für immer in der eigenen Seele weiter.“

Belastende Rolle: Schauspieler Michael Moriarty (links) als Erik Dorf in der TV-Serie „Holocaust“

„Holocaust“ als kollektives Medienereignis

Für die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie hatten sich die Intendanten und Direktoren der deutschen Fernsehsender (ARD) auf eine zeitgleiche Ausstrahlung von „Holocaust“ geeinigt. Nur der Bayrische Rundfunk in München klinkte sich aus.

Im Anschluss an jede Serienfolge strahlte der federführende Westdeutsche Rundfunk in Köln (WDR) jeden Abend die Live-Sendung „Anruf erwünscht“ aus, eine hochkarätig besetzte Diskussionsrunde aus Experten und Betroffenen. Auch das war neu. Mit dabei, und ein absolutes Novum in einer deutschen Fernsehsendung, saßen auch Überlebende des Holocaust: der Politikwissenschaftler Eugen Kogon, Hermann Langbein, als politischer Gefangener in Auschwitz und Neuengamme und Renate Lasker, die mit ihrer Schwester Anita die Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und den Todesmarsch nach Bergen-Belsen überlebt hatte. Im April 1945 wurden sie von den britischen Truppen befreit.

Was Renate Lasker-Harpprecht, wie sie inzwischen hieß, an diesem Abend im Fernsehstudio E des Westdeutschen Rundfunks in kargen Worten von dem wirklichen Alltag im KZ berichtete, schockierte die Fernsehzuschauer zutiefst. Noch nie hatte jemand öffentlich berichtet, was die Häftlinge tagtäglich unter dem Terror der SS erleiden mussten.

Zeitzeugin Anita Lasker-Wallfisch spricht 2018 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages in Berlin

Lasker-Harpprecht wandte sich am Schluss persönlich an die jungen Zuschauer: „Ihr könnt eure Kinder und uns alle schützen, wenn ihr immer wieder Fragen stellt. Und wenn ihr Zivilcourage zeigt und nicht so feige seid, wie eure Eltern und Großeltern waren.“ So kann man es in dem Buch „Im Kreuzfeuer: Der Fernsehfilm Holocaust: eine Nation ist betroffen“ (Fischer 1979) nachlesen. 

Einschaltquoten wie bei Sportereignissen

Weder die zahlreichen historischen TV-Dokumentationen über die Nazizeit, noch Kinofilme wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ hatten das geschafft, was diese Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ damals in ganz Westdeutschland und auch in Österreich auslöste: Einschaltquoten von knapp 40 Prozent, zehntausende von nächtlichen Anrufen und bergeweise Zuschauerpost, die später auch die Wissenschaft beschäftigten.

Ziel vieler Deutschland-Touristen: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin

In Deutschland gab es im Januar 1979 keine Zeitung, die sich nicht mit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie und den emotionalen Nachwirkungen in Deutschland beschäftigte. Ivo Frenzl, verantwortlicher Sende-Redakteur beim WDR, schrieb rückblickend: „Die Holocaust-Sendungen haben es geschafft, dass ein ganzes Volk sich plötzlich und höchst schmerzhaft seiner eigenen Geschichte erinnerte.“ Und es wurden auf einmal Fragen gestellt: Was hat unser Großvater in der Nazizeit gemacht? Warum habt ihr den jüdischen Nachbarn nicht geholfen? Wieviel habt ihr gewusst?

Heute kommen viele Schulklassen und vor allem auch junge Touristen aus den USA, Kanada, Japan oder Israel wegen des Besuches einer der Gedenkstätten nach Berlin. Auch um sich wieder neu mit dem Kapitel der deutschen und der jüdischen Geschichte zu beschäftigen, das erst 1978/79 durch eine amerikanische Fernsehserie ins volle Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit kam. Eine Serie, die zugleich den Begriff „Holocaust“ (vom griechischen Holókaustos = vollständig verbrannt) nach Deutschland brachte, den fortan auch die deutschen Politiker im Bundestag übernahmen. Zuvor war stets vom „Völkermord an den europäischen Juden“ die Rede gewesen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte „Holocaust“ zum Wort des Jahres 1979.

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