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Politik - 15.06.2019

Gastkommentar von Michel Friedman: Mehr Mut zum Mut

Sich mit anderen zu streiten und am Ende einen Kompromiss zu finden – das ist der Sauerstoff der Demokratie, findet unserer Gastautor.

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Demokratie braucht Mut. Demokratie bietet allerdings auch die Voraussetzungen, eigentlich gar nicht mutig sein zu müssen – weil das Risiko, zu mutig zu sein, so gering ist wie nur möglich. Gleichzeitig braucht die Demokratie, dass so viele Menschen wie möglich das Geschenk des politischen Widerspruchs, des politischen Engagements alltäglich real werden lassen, damit die demokratische Idee lebendig ist und bleibt.

Wer sich einmischt, eine Meinung vertritt, einer anderen Meinung widerspricht, fragt, zweifelt, verliert seine Anonymität und zeigt Gesicht. In Wohlstandsgesellschaften (zu der ich auch die Bundesrepublik Deutschland zähle) scheint es, dass das „Sich-einmischen“, sowohl im persönlichen als auch im politischen, eher zurückhaltend gelebt wird. Aber je weniger der Mensch sein Gesicht zeigt, desto mehr Anstrengung bedarf es, dies endlich mal wieder zu tun. Der Muskelkater des Ungewohnten schmerzt überdurchschnittlich, obwohl die Trainingseinheit nicht der Rede wert ist.

Mehr Meinung, mehr Ecken und Kanten

Das Gegenteil von Mut ist es, seine Meinung anonym im Netz zu verkünden. Hass und Gewalt zu vertreten, ist nicht mutig, sondern geistige Brandstiftung. Wer dabei auch eine Verrohung der Sprache und der Gedanken ausdrückt, ist nicht nur nicht mutig, sondern schlichtweg erbärmlich und gefährlich. Die Krise der Volksparteien, aber auch anderer gesellschaftspolitisch relevanten Gruppen, wie der Gewerkschaften oder der Kirchen, könnten auch das Ergebnis mangelnden Mutes ihrer Repräsentanten sein. Mut zu einer Meinung und einer Haltung, mit Ecken und Kanten, statt mit dem Versuch, vorneweg abgerundet zu sein.

UNSER GASTAUTOR

Michel Friedman ist Jurist, Politiker, Publizist und Fernsehmoderator.

Der Wettbewerb unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Konzepte, der Mut zum Dissens und der anschließende Mut zum Kompromiss durch mutige Auseinandersetzungen und Argumentationen sind der Sauerstoff einer Demokratie. Die Partikularisierung der gesellschaftlich-kulturellen Identitäten darf nicht zu einer Isolation führen. Eine dynamische Gesellschaft braucht allerdings genau das Gegenteil – einerseits den Freiraum, dass sich unterschiedliche kulturelle Identitäten entwickeln, andererseits den dynamischen Dialog und die Verhandlung zwischen all diesen Gruppen, was das sie Verbindende ist. Diese Verhandlung ist das Fundament, um Identität und Identifikation zu einer gesellschaftlichen Gesamtverantwortung zu definieren und zu entwickeln.

Dabei braucht es selbstverständlich Mut, die Perspektive des anderen zu verstehen. Solange sie sich im Rahmen des Grundgesetzes und der Menschenrechte entfaltet, werden wir gemeinsam lernen müssen, diese Vielfalt der Moderne nicht nur auszuhalten, sondern auch, wenn nötig, durch einen kontroversen Dialog Annäherungen und dynamische Prozesse zu entfalten.

Junge Menschen regen uns auf – und an

Mut kann man lernen. Mut kann man üben. Mut kann zu persönlichen Konsequenzen führen. Von der Ächtung im Freundeskreis, bis zu beruflichen Sanktionen. Ja, Mut hat einen Preis. Der höchste Preis, der allerdings bezahlt werden könnte, entsteht aus der Mutlosigkeit. Der Mensch wird gesichtslos, die Gesellschaft wird autoritärer, reaktionärer und aggressiver. Viele junge Menschen haben in den letzten Monaten wieder Mut. Sie protestieren, sie demonstrieren, sie mischen sich ein, sie regen uns auf, sie regen uns an, sie konfrontieren uns mit unseren Erfolgen und Misserfolgen. Sie verlangen mehr, als wir bisher getan haben. Sie machen uns Mut, auch wieder Mut zu haben. Endlich!

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