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Kultur - 12.02.2019

Wie „Mr. Jones“ Stalins Hungersnot aufdeckte

1933 ließ Stalin Millionen Ukrainer hungern. Der Westen erfuhr davon erstmals durch den Journalisten „Mr. Jones“. Auf der Berlinale erinnert Agniezska Holland an ihn. Ihr Film ist eine Hommage an die Pressefreiheit.

„Mr. Jones“ beginnt mit einem Käfig voller schmatzender Schweine inmitten endloser Weizenfelder. Diese Szene steht für die einst fruchtbare Landwirtschaft der Ukraine. In den Jahren 1932 und 1933 wandelte sich dieses Bild. Die Ukrainer litten Hunger. Millionen Menschen starben, weil sie nichts mehr zu Essen hatten. 

Stalin machte die Ukraine zur Brotdose der Sowjetunion und nutzte ihre Ressourcen, um seine ehrgeizigen Industrialisierungsprojekte zu finanzieren – und wichtige Parteifunktionäre durchfüttern zu können. Aus jener Zeit stammt der Begriff „Holodomor“, der sich aus den ukrainischen Worten für Hunger (Holod) und Vernichtung (Mor) zusammensetzt.

Das Team: Schauspieler Peter Sarsgaard, Drehbuchautorin Andrea Chalupa, Regisseurin Agnieszka Holland und Schauspieler James Norton bei der Berlinale

„Mr. Jones“ auf der Berlinale

Der Film „Mr. Jones“, von der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland, hatte seine Premiere am Sonntag auf der Berlinale. Holland porträtiert den Journalisten Gareth Jones (James Norton), der die westliche Welt über die von Stalin ausgelöste Hungersnot informierte. Der junge walisische Reporter hatte sich damals schon einen Namen gemacht. Als erster ausländischer Journalist interviewte er Adolf Hitler im Februar 1933, nach dessen Ernennung zum Reichskanzler. Anschließend reiste er in die Sowjetunion, um zu recherchieren, wie Stalin das Land in Zeiten der Weltwirtschaftskrise finanzieren und modernisieren konnte.

Jones knüpfte Kontakte mit Walter Duranty (Peter Sarsgaard), dem Korrespondenten der „New York Times“ in Moskau. 1932 hatte er für eine Reihe von Berichten über die Sowjetunion einen Pulitzer-Preis gewonnen. Duranty zog es damals vor mit Avantgarde-Künstlern und Opiumrauchern zu feiern, als das utopische Experiment Stalins mit Artikeln zu begleiten, die es sowieso nicht an den sowjetischen Zensoren vorbei geschafft hätten.

Große Teile der Bevölkerung litten Hunger

Jones reiste schließlich heimlich in die Ukraine und wurde Zeuge der Hungersnot. Seine Beobachtungen veröffentlichte er Ende März 1933. Zeitungen auf der ganzen Welt griffen sie auf. Wenige Tage später widerlegte Duranty die Darstellungen in einem eigenen Artikel: „Russen hungrig, aber nicht am Verhungern“.

Der Film zeigt Jones nicht als Journalisten, der lediglich die Berichte der Bauern aufschreibt. Als seine Vorräte gestohlen werden, erfährt er am eigenen Leib, was es heißt, zu hungern. Die Filmemacherin Agnieszka Holland wollte über den „touristischen Standpunkt eines britischen Journalisten“ hinausgehen, sagte sie auf der Pressekonferenz zur Weltpremiere. Sie habe einen Weg finden müssen, die Gräueltaten darzustellen. Sie wollte „die Pornografie der Gewalt vermeiden“ und trotzdem nah an der Realität zu bleiben.

Während des Holodomor verhungerten Menschen in der Ukraine auf der Straße

Viele zeithistorische Dokumente überliefert

Ihre Darstellung der Hungersnot basiert nicht allein auf Jones‘ Texten. Die Regisseurin beruft sich auch auf Augenzeugenberichte und andere dokumentierte Ereignisse. In einer Szene wird die Leiche einer Mutter und der Körper ihres noch lebenden Säuglings auf andere Leichname geworfen, die auf einem Schlitten transportiert werden.

Der Großvater der Drehbuchautorin Andrea Chalupa hat diese Szene miterlebt: ein Überlebender des Holodomor, geboren im Donbass, einer Region in der Ostukraine, deren Separatisten militärisch von Russland unterstützt wurden. Gut dokumentiert ist zudem der sich ausbreitende Kannibalismus.

Ukraine spricht von Völkermord

Unter dem Druck des Kreml leugneten westliche Korrespondenten damals Hunger und Gräueltaten. Bis heute ist der Holodomor ein politisch aufgeladenes Thema. Die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer variieren stark. Eine UN-Erklärung von 2003 geht von sieben bis zehn Millionen Todesopfern aus. Die Ukraine bezeichnet die Geschehnisse als Völkermord, ebenso wie 17 weitere Nationen.

Der Titel des Films greift auch George Orwells anti-stalinistische Novelle „Farm der Tiere“ auf, schließlich hießt der Bauer dort Mr. Jones. Orwell selbst erscheint als Figur im Film. Szenen, in denen Orwell (Joseph Mawle) seine allegorische Geschichte gegen Stalin schreibt, bilden den Rahmen der Haupthandlung.

Zwar ist unklar, ob sich Jones und Orwell tatsächlich je getroffen haben, ihr gemeinsamer Auftritt sei jedoch eine künstlerische Anspielung auf ihren intellektuellen Mut, erklärte Drehbuchautorin Chalupa. Bei der Recherche für den Film fand sie zudem heraus, dass „Farm der Tiere“ anfangs besonders in der ukrainischen Diaspora Anklang fand, die in der satirischen Allegorie das eigene Schicksal erkannte.

Orwells Buch „Farm der Tiere“ ist eine Kritik des Stalinismus

Anerkennung für Reporter in Krisenregionen

2004 hatte Chalupa mit der Arbeit am Drehbuch begonnen. In den Jahren, die das Projekt bis zu seiner Fertigstellung brauchte, gewann der Autoritarismus weltweit an Boden. Plötzlich ging es bei „Mr. Jones“ nicht mehr nur um ein vernachlässigtes Kapitel der Geschichte. Der Film wurde zu einer Hommage an alle Reporter, die ihr Leben riskieren, um die Wahrheit aufzudecken – inbesondere in Zeiten von Fake News.

Agnieszka Hollands Film „Mr. Jones“ ist eine Hommage an die Pressefreiheit

„Es mangelt uns heute nicht an bestechlichen Konformisten und Egoisten, uns fehlt es an Orwells und Jones‘. Deshalb haben wir sie wieder zum Leben erweckt“, sagte die Regisseurin Agnieszka Holland. Die preisgekrönte Filmemacherin ist bekannt für Werke, die sich mit dem Holocaust und der Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigen, darunter „Hitlerjunge Salomon“ (1991), „In Darkness“ (2011) und „Die Spur“ (2017). Die heute 70-Jährige führte auch Regie bei mehreren Folgen der US-Serien „The Wire“ und „House of Cards“.

„Die Geister des Holodomor treten wieder ins Rampenlicht“

Das unabhängige russische Forschungsinstitut Levada Center fragte die Russen 2017 in einer Umfrage nach der „herausragendsten Person“ der Weltgeschichte. Stalin lag mit 38 Prozent an der Spitze, gefolgt von Putin mit 34 Prozent. „Das zeigt die Versklavung des Geistes und der Menschen“, sagte Holland. Stalin sei einer der größten Mörder der Geschichte, der für Millionen von Todesfällen verantwortlich sei. „Aber er gewann den Krieg und machte die Sowjetunion wieder groß.“ Die aktuelle Situation im Land und die feindseligen Beziehungen zur Ukraine tragen zur Relevanz und Aktualität des Films bei. „Die Geister des Holodomor treten wieder ins Rampenlicht“, sagte Holland.

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