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Kultur - 11.12.2018

Was Frankreichs Autoren zu den Gelbwesten sagen

Eine friedliche Revolution von unten hat Macron seinen Landsleuten 2017 versprochen. 18 Monate später legen Gelbwesten das Land lahm. Zeitgenössische Schriftsteller überrascht das nicht. Sie hatten es vorhergesehen.

Auch Marianne, Frankreichs nationale Symbolfigur, kam beim Aufstand der Gelbwesten nicht ungeschoren davon. Letzte Woche wurde ihr ein Auge ausgeschlagen. Jüngst wurde sie mit Graffiti beschmiert. Die Gelbwesten, die sich in diesen Tagen an Kulturdenkmälern vergreifen und sogar den Triumphbogen mit Hammerschlägen bearbeiten, gehe es nicht darum, Kultur zu zerstören, sondern die dahinterstehende Staatsmacht zu treffen, glaubt die französische Schriftstellerin Annie Ernaux: „Wenn es wirklich die Gelbwesten waren [was nicht sicher ist, Anm. d. Red.], wollen sie damit vermutlich sagen: Die Republik ist nicht gut zu uns – sie lässt uns im Stich“, sagte sie der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Im Stich gelassen fühlten sich die Franzosen im Laufe ihrer Geschichte schon oft. 1789 begann mit der Zerstörung der Bastille die Französische Revolution. Sie entzündete sich damals an der Anhebung des Brotpreises. Diesmal begann alles mit der angekündigten Erhöhung des Benzinpreises. Und wieder ist es ein Aufstand der Armen gegen die Elite. Es sind Lastwagenfahrer, Krankenschwestern und Landwirte, die auf die Straße gehen und gegen soziale Ungerechtigkeit protestieren.

Zwischen friedliche Demonstranten mischen sich immer wieder gewaltbereite Chaoten

Aufstand der Unzufriedenen 

Einen Anführer haben die Aufständischen nicht, bisher werden die Proteste via Facebook organisiert. Die neongelbe Warnweste ist zum Wiedererkennungszeichen aller Unzufriedenen geworden, die von ihren Löhnen kaum noch leben können. „Mit der Armut in Bangladesch sei das natürlich nicht zu vergleichen“, so der Politikwissenschaftler Hans Stark vom Französischen Institut für internationale Beziehungen in Paris. „Aber wenn man hier in Frankreich mit einem Mindestlohn bei 1000 Euro liegt und am Ende nur noch 100 bis 200 Euro zum Leben hat, dann schlägt eine Erhöhung des Benzinpreises um sieben Prozent schon massiv zu.“

Politikwissenschaftler Hans Stark

Die streitbare französische Protestkultur erklärt Stark mit den politischen Strukturen eines Landes, das keinen regionalen Unterbau oder Mittelbau habe. „In Deutschland haben wir durch die föderale Struktur und durch die vielen Landtagswahlen, viele Ventile, um Dampf abzulassen, die es so in Frankreich nicht gibt.“ Dort müsse man nach Paris kommen, um angehört zu werden: „Man muss praktisch im Vorhof des Élysée-Palastes demonstrieren.“

Proteste sind nicht überraschend 

Auch wenn die meisten der über 100.000 Gelbwesten friedlich sind, kommt es immer wieder zu Plünderungen, brennenden Autos und Straßenschlachten mit der Polizei – ein Szenario, das Michel Houellebecq in seinem Roman „Unterwerfung“ 2015 vorwegnahm. Der Schriftsteller habe schon immer ein Gespür für die gesellschaftliche Stimmung gehabt, sagte der Literaturkritiker Dirk Fuhrig im Deutschlandfunk.

In Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ brennen Autos und Tankstellen auf Paris‘ Straßen

Auch für die Autorin Annie Ernaux, deren Familie selbst aus der Arbeiterklasse stammt, kommt der Aufstand nicht überraschend: „Ich glaube, in Frankreich ist das Verlangen nach ‚Égalité‘, nach sozialer Gleicheit noch viel lebendiger als in England oder Deutschland. Es gehört zum Fundament der Französischen Republik.“ Der tiefe Graben zwischen Großstadt und französischer Provinz bestehe schon sehr lange, ist sie überzeugt. Die privilegierte Klasse in den Großstädten beherrsche die Kultur und die Kommunikationsmittel. Auf dem Land hingegen rutsche die Mittelschicht immer mehr ab.

Präsident Macron gebärde sich wie ein König, kritisieren viele Gelbwesten

Hinzu komme die Arroganz der Pariser Elite gegenüber den Gelbwesten. So wurde es Präsident Macron sehr übel genommen, dass er einem Arbeitslosen sagte, er müsse nur über die Straße gehen, um einen neuen Job zu finden. „Darin steckt enorm viel Verachtung“, so Ernaux gegenüber der „Zeit“. 

Überheblichkeit der herrschenden Klasse 

Die einfühlsame und detaillierte Beschreibung der Abgehängten – das war auch das Thema, das dem Franzosen Nicolas Mathieu für seinen Roman „Les enfants après eux“ (dt. Nach ihnen die Kinder) in diesem Jahr den wichtigsten Literaturpreis Frankreichs, den Prix-Goncourt, bescherte. Ein Zufall?

Auch der Soziologe Didier Eribon und der Schriftsteller Édouard Louis erzählen in ihren Werken von der Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich. Eribon beschreibt in seinem autobiographischen Buch „Rückkehr nach Reims“ die Kindheit in einem Armen-Vorort der nordfranzösischen Stadt und geht der Frage nach, warum ehemalige Linke jetzt Front National wählen. Louis, der ebenfalls aus einem zunehmend ärmer werdenden Arbeitermilieu stammt, schreibt in seinen Romanen „Das Ende von Eddy“ und „Im Herzen der Gewalt“ unter anderem von sozialer Ausgrenzung und Verbitterung. In der französischen Wochenzeitschrift „Les Inrockuptibles“schrieb er: „Ich fühle mich persönlich betroffen von der Verachtung und Gewalt, mit der die bürgerlichen Klassen dieser Bewegung sofort begegnet sind.“

Demonstranten wurden mit Tränengas beschossen

Denn, so schreibt Louis, er sehe auf den Fotos von Gelbwesten „Körper, die von der Müdigkeit und der Arbeit, vom Hunger, von der andauernden Demütigung durch die Herrschenden verwüstet sind“. Und weiter: „Die Körper der Menschen, die man auf diesen Fotos sieht, ähneln demjenigen meines Vaters, meines Bruders, meiner Tante. Von diesen Menschen, deren Gesundheit von Elend und Armut ruiniert ist, hörte ich immer wieder, meine ganze Kindheit lang: ‚Auf uns zählt niemand. Von uns spricht niemand‘. Jeder, der eine Gelbweste beleidigt, beleidigt meinen Vater.“

Vielen seiner Landsleute spricht der 26-Jährige aus der Seele, auch wenn sie seine Zeilen wahrscheinlich nie lesen werden. Immerhin 72 Prozent der Franzosen sollen hinter dem Anliegen der Gelbwesten stehen.

Welche Maßnahmen verkündet Macron?

Am Montagabend hat Präsident Emmanuel Macron zu den Gelbwesten gesprochen. „Viele wollen eine Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent“, so Politikwissenschaftler Stark. „Eine solche Maßnahme kann Macron nicht ankündigen, wenn er nicht in der Hinterhand die Gewissheit hat, dass diese finanziell umgesetzt werden kann, ohne dass Frankreich seine Staatsschulden erhöht. Und das ist gar nicht so einfach. Das ist eine Quadratur des Kreises, die von ihm verlangt wird.“

Der Kampf geht weiter. Fürs nächste Wochenende sind jedenfalls schon wieder Demonstrationen angekündigt. Vorsorglich werden dann der Eiffelturm, der Arc de Triomphe, das Centre Pompiodou, die Oper sowie Theater und Museen wieder ihre Pforten schließen und unter Polizeischutz gestellt – aus Angst vor weiteren Ausschreitungen. „Das ist absolut katastrophal, insbesondere für den Einzelhandel und für den Tourismus“, bilanziert Hans Stark. „Die Schäden in Frankreich gehen weit in die Millionen.“ 

Aus Sicherheitsgründen werden Kulturdenkmäler am Wochenende erneut geschlossen

Ob die Mehrheit der Gelbwesten Macron wirklich aus dem Präsidentenpalast jagen will, ist allerdings fraglich: „Wenn Macron gehen würde, dann sähe es düster aus in Frankreich“, so Stark. „Denn die Opposition beschränkt sich auf zwei Figuren: auf der rechtsextremen Seite Marine Le Pen und auf der linksextremen Seite Jean-Luc Mélenchon. Mit anderen Worten: Gäbe es jetzt Wahlen, dann bestünde in der Tat die große Gefahr, dass wir eine Situation hätten wie in Italien. Und damit ist keinem geholfen.“

Das weiß auch die Mehrheit der Franzosen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Bürger nach der Rede zu ihrem Präsident stellen. Vielleicht kommt dann auch Nationalikone Marianne wieder zur Ruhe.

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