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Gesundheit - 18.11.2018

Frontotemporale Demenz: Silke heiratet Kalle, sie ist 48 und dement

Als Silke Kalle kennenlernt, ist sie 45. Sie hat ein fünfjähriges Kind, sie wird langsam dement, und sie glaubt nicht, dass noch etwas kommen kann in ihrem Leben. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe.

Kalle und Silke bei ihrer Hochzeit. Silke leidet an frontotemporaler Demenz. Silkes Tochter Letizia (r.) streut Rosenblüten.

An einem schwülen Sommertag sitzen Silke und Kalle im Pfarrheim und lassen sich erklären, wie das so läuft, wenn man sich die ewige Liebe schwört. Der Pfarrer in Sandalen, Shorts und Hugo-Boss-Polo sagt: „Wir alle singen ein Lied, sprechen ein Gebet, dann halte ich eine Predigt, den 1. Korintherbrief natürlich, 13. Kapitel. ‚Die Liebe ist langmütig und freundlich, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.‘ Ein Klassiker!“

Silke nickt, Kalle nickt. „Das klingt doch ganz gut.“

Frontotemporale Demenz

„Dann das Jawort, Sie küssen sich, wir singen und beten wieder, ein Vaterunser. Dann gehe ich raus und Sie hinterher.“

„Okay.“

„Haben Sie Blumenkinder?“

„Ja, zwei. Reis und Rosenblüten werfen die.“

„Besser nur Rosen. Den Reis kriegen wir immer so schwer wieder raus aus der Kirche.“

„Okay. Nur Rosen.“

„Wie haben Sie sich denn kennengelernt?“

„Ach, das war kompliziert“, sagt Silke. Kalle erklärt: „Bei unserem ersten Treffen hat Silke zu mir gesagt: Ich habe einen Mann. Ich habe ein Kind. Und ich bin krank.“

„Ah ja, okay. Und wie stellen Sie sich Ihre gemeinsame Zukunft vor? Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“

Kalle schaut Silke an, und Silke Kalle. Silke sagt: „Ich sehe uns in fünf Jahren nirgends. Ich sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein.“

Silke hat die vielen bunten Bilder aufgehoben, die Ärzte von ihrem Gehirn gemacht haben

Dass Silke Reiß-Naumann, 48, an diesem Tag vor dem Pfarrer sitzt, dass sie spricht, dass sie lacht, dass sie liebt, dass sie lebt: Das ist ein kleines Wunder. Das sagt sie. Das sagt Kalle. Das sagen auch die Neurologen.

Einem von ihnen sitzt Silke, von Beruf Hauswirtschafterin, vor 15 Jahren gegenüber. Ihr Hausarzt hat sie dorthin geschickt. Weil sie in letzter Zeit immer mal wieder etwas vergessen hat. Silke denkt sich nichts dabei. Ist sicher eine Routineuntersuchung. Doch nun redet der Neurologe auf sie ein, und Silke versteht nur Wortfetzen. Hirnatrophie. FTD. Frontotemporale Demenz. Genetische Veranlagung. Was der Arzt ihr eigentlich sagen will: „Ihr Hirn schrumpft. Es wird weiter schrumpfen. Sie werden immer häufiger Dinge vergessen. Bis Ihre Erinnerungen verblassen. Sie werden Menschen nicht mehr erkennen. Auch die, die Ihnen besonders nahestehen, Ihre Familie, Ihre Freunde. Und irgendwann werden Sie an dieser Krankheit sterben. Vielleicht in fünf Jahren, mit etwas Glück in zehn oder zwölf.“

Überfordert und allein

Silke weiß nicht, was sie mit alldem anfangen soll. Sie ist doch gesund und gerade erst 33 geworden. Demenz? In dem Alter? Gibt es das? Sie rechnet. 33 plus fünf Jahre, das wären 38, plus zehn 43, plus zwölf 45. Silke überlegt. Was passiert mit mir in all den Tagen dazwischen? Wache ich irgendwann auf und weiß nicht mehr, wer ich bin? Und wer die anderen sind, die mich dann mitleidig anschauen? Sie fragt sich: Will ich das alles tatsächlich erleben?

Silke schiebt die Gedanken beiseite. Sie fängt an, alles Mögliche auf Zettel zu schreiben. Termine, Kochrezepte, Erinnerungen. Wenn sie Essen auf dem Herd hat, stellt sie sich einen Wecker, damit sie es nicht vergisst. Aber manchmal vergisst sie das mit dem Weckerstellen, und dann riecht es verbrannt. Sie versucht, alles, was sie tut, fest im Gedächtnis zu halten, und doch legt sie manchmal ein Hähnchen zum Auftauen in die Spüle und fragt sich eine halbe Stunde später, was das dort zu suchen hat.

Die Familie zu Hause auf dem Sofa. Silkes Ärzte sagen, es sei ein Wunder, dass sie noch lebt.

Silke ist überfordert. Sie erzählt ihrem damaligen Partner von ihrer Krankheit. Von dem, was ist, und von dem, was kommt. Der Partner trennt sich von ihr. Und Silke ist überfordert und allein.

Einige Jahre später lernt Silke wieder einen Mann kennen. Einen, dem sie von ihrer Krankheit erzählt und über den sie nur ungern spricht. 2010 bekommen die beiden eine Tochter, Letizia. Ist halt so passiert. Die beiden heiraten. Nicht wirklich aus Liebe. Eine Ehe mit viel Streit und wenig Glück. Eine Ehe, die nicht gut ist. Aber besser als ein Leben allein, denkt Silke. Wen sonst soll es da draußen geben für eine wie sie?

Kniffelturnier

Silke zieht sich immer mehr zurück, lenkt sich ab. An einem Tag im Winter 2015 nimmt eine Bekannte sie mit zum Anglerverein. Dort hocken etwa zwei Dutzend Menschen an Tischen und leeren Würfel aus Bechern. Das Kniffelturnier des Sportfischervereins Holzminden. An einem der Tische sitzt der Sportwart des Vereins, Karl-Heinz Müller, genannt Kalle, damals 39 Jahre alt und geschieden. Die Silke, 1,58 Meter, fällt dem Kalle, 1,90 Meter, auf. Immer wenn Silke mal vor die Tür geht, um eine Zigarette zu rauchen, dann geht Kalle auch und stellt sich dazu. Kalle bückt sich zu Silke runter. „Na, wie heißt du denn?“ – „Silke.“ „Ich bin der Kalle. Und was machst du hier?“ – „Na, kniffeln?!“ – „Ach ja. Ich auch.“ Kalle will Silkes Nummer haben. Silke will das nicht. Sie gibt ihm aber ihre Kontaktdaten bei .

Nach ein paar Wochen traut sich Kalle, ihr eine Freundschaftsanfrage zu schicken. Vorsichtiges Tasten.

1. Februar. Kalle: „Hi, danke, dass du die Freundschaft angenommen hast! Wünsche dir einen schönen Abend!“

Silke: „Wünsche ich dir auch.“

Vier Tage später. Silke: „Sorry für die Störung. Wollte dir nur ein schönes Wochenende wünschen.“

An manchen Tagen kommt Silke noch hoch von der Couch. Dann schafft sie es, mit Letizia auf den Spielplatz zu gehen.

Kalle: „Danke dir. Du störst nicht.“ Kalle schickt ein Foto von Lucie, seinem Hund.

Silke: „Süß!“

Kalle: „Meine Ex hat den Hund gehasst.“

Silke: „Dann war sie nicht die Richtige.“

Kalle: „Ich suche mir immer die falschen Frauen aus.“

Silke: „Ich finde auch immer die falschen Männer.“

Kalle: „Da haben wir was gemeinsam.“

Immer wieder schreibt Silke Kalle, und Kalle schreibt zurück. Wenn Kalle, der Lkw-Fahrer, auf Tour ist mit seinem 20-Tonner und Silke zu Hause sitzt und froh ist, dass ihr Mann mal später nach Hause kommt von der Arbeit. Sie verabreden sich in einem chinesischen Restaurant um die Ecke. Der 14. Februar 2016. Valentinstag. Das ist ihnen nicht bewusst. Sie gehen spazieren, erzählen sich aus ihrem Leben; und als sie sich verabschieden, sagt Silke die Worte, die Kalle aus seinem Traum reißen: Mann, Kind, krank, dement, eigentlich sollte ich nicht mehr leben. Kalle denkt sich: Das war’s.

Wehmut

Aber Kalle denkt auch immer wieder an Silke, und sie an ihn. Sie telefonieren heimlich. Einmal, als ihr Mann nach Hause kommt, legt Silke nicht auf, und Kalle hört den beiden beim Streiten zu. Er denkt: „Diese Frau hat ein besseres Leben verdient.“ Irgendwann packt Silke ihre Siebensachen und Letizia ein, trennt sich von deren Vater und zieht zu Kalle in seine Junggesellenbude. Die ist zu klein für drei, das merkt auch Silke. Aber hier wird sie in den Arm genommen. Hier kann sie lachen. Hier hört ihr jemand zu. Hier kann sie sein. Und hier wird aus der Freundschaft von Silke und Kalle Liebe. Obwohl Silke das schon vor Jahren aufgegeben hatte: sich und die Liebe.

Die beiden und Letizia ziehen in eine größere Wohnung. Am Wochenende ist Letizia bei ihrem Vater, unter der Woche bei Silke und Kalle. Kalle macht mit Letizia die Hausaufgaben, weil Silke sich nicht konzentrieren kann und ihr Wörter nicht mehr einfallen. Kalle bringt Letizia zur Schule und holt sie wieder ab, weil Silke Angst hat, nicht mehr zurückzufinden. Kalle geht mit Letizia Fußball spielen, weil Silke die Kraft fehlt.

Auch kann Silke noch manchmal einkaufen gehen

Letizias Lieblingsfußballspieler? „Kalle!“ Letizias Lieblingstorwart? „Kalle!“ Letizias Lieblingsmannschaft? „Deutschland! Und Werder Bremen, weil Kalle die so mag.“ Manchmal nennt Letizia ihn „Papa“. Kalle mag das nicht, auch wenn er Letizia sofort adoptieren würde, wenn er das könnte. Er sagt dann: „Ich bin das eben nicht, dein Papa.“ Letizia steht daneben und schaut, wie ein achtjähriges Mädchen eben schaut, wenn sein Held gerade etwas erzählt hat, das es lieber nicht gewusst hätte. Kalle merkt das: „Aber Kalle klingt doch auch schön, oder?“ „Ist okay“, sagt Letizia etwas geknickt und presst ihre Lippen aufs Kalles Wange.

Es gab Leute, die haben Kalle nicht verstanden. Zusammenziehen mit einer, die ihn vielleicht bald nicht mehr erkennt. Kalle ist es egal, was die anderen sagen. Er spürt, dass sich das richtig anfühlt, was er tut.

Seinen Job als Lkw-Fahrer hat er irgendwann aufgegeben. Das ist ihm schon schwergefallen. Das Leben auf der Straße war nicht immer einfach, aber es war sein Leben. Jetzt ist er das „Mädchen für alles“ in der Spedition. Lädt Fracht ein, lädt aus, repariert, kehrt den Hof, schneidet die Hecke. Wenn die anderen Fahrer zurückkommen von ihren Touren und erzählen, was sie alles erlebt haben auf den Straßen zwischen Alpen und Nordsee, dann tut das Kalle weh. Aber er weiß, wofür er den Job aufgegeben hat. Für sein neues Leben. Nur so kann er jeden Tag bei Silke sein und Letizia von der Schule abholen. Er hat jetzt eine Familie, sagt sich Kalle. Die braucht ihn. Sein Namensschild, das knapp 20 Jahre an der Frontscheibe seines Lkws stand, steht nun im Schlafzimmer auf dem Fensterbrett. Fünf Buchstaben in Blau und Weiß. Wehmut auf dünnes Blech gepresst.

„Ich brauch die Mama doch.“

An manchen Tagen geht es Silke gut. Dann kocht sie etwas Kleines. Geht mit zum Einkaufen. Schaut fern oder hört Musik. An vielen anderen Tagen liegt sie von früh bis spät auf der Couch. Schmerzen ziehen sich dann durch ihren Körper, und ohne Krücken kommt sie nicht auf die Beine. Ihre Lieblingslieder oder das Gequatsche im Fernsehen erträgt sie an solchen Tagen nicht. Auch nicht die Geschichten, die Kalle erzählt, wenn er von der Arbeit kommt. Sie fährt ihn dann schon mal an. Aber Kalle weiß, dass sie das nicht böse meint. Dass Silke manchmal einfach nicht anders kann.

Silke tanzt, und Silke lacht. Kalle bewundert sie dafür, dass sie ihr Leben aushält.

Jeden Tag schluckt sie ihre Tabletten. Levothyroxin 75 mg, Hygroton 25 mg, Ginkobil 240 mg, Vitamin B12: morgens. Ramipril 5 mg: morgens und mittags. Levetiracetam 750 mg: morgens und abends. Lercanidipin und Bisoprolol 10 mg: abends. Tilidin 50 mg, Naloxon 4 mg und Paracetamol 500 mg mit Codein: bei Bedarf. Silke droht zu erblinden, hat Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung und eine Schilddrüse, die viermal so groß ist, wie sie sein sollte. Manches wegen ihrer Krankheit und anderes wegen der Medikamente gegen ihre Krankheit.

Letztens hat Letizia zum ersten Mal etwas von „Demenz“ erzählt. Silke und Kalle haben ihr gegenüber das Wort nie benutzt, sie haben ihr erzählt, dass „die Mama krank ist und deswegen nicht alles so machen kann wie die anderen Mamas“. Aber Letizia wird älter, vor ein paar Monaten ist sie acht geworden. Wenn Silke mal wieder etwas vergisst, ihr ein Teller runterfällt oder sie sich übergeben muss wegen ihrer Medikamente, dann merkt Letizia das. Ob sie Angst hat, dass der Mama was passiert? „Ja. Ganz arg. Ich brauch die Mama doch.“ Silke sagt: „Aber ich hab dir ja schon oft gesagt: Ich bin für immer da drin.“ Beim „da“ zeigt Silke auf Letizias Herz. Die nickt, atmet tief ein und drückt ihre Hand fest auf ihre linke Brust.

Sterbehilfe

Silke weiß, dass sie mit ihrer Tochter irgendwann darüber reden muss, was los ist. Aber sie hat Angst davor. Insgeheim hatte sie immer gedacht, dass sich das alles von selbst erledigen würde. Sie sollte doch gar nicht mehr da sein. Auch deshalb hatten ihr viele gesagt, als sie mit Letizia schwanger war: „Treib doch ab.“ Und weil sie 39 war und krank und die Schwangerschaft auch sie selbst das Leben hätte kosten können. Sie dachte sich aber: „Das ist doch auch ein Leben.“ Und irgendwann war Letizia da, fing an zu laufen, zu sprechen, kam in den Kindergarten, die Schule und war auf einmal die, die sie heute ist. Und ohne die sich Silke nicht vorstellen könnte zu leben.

Kalle hat oft darüber nachgedacht, was er machen würde, wenn er an Silkes Stelle wäre. „Mich umbringen!“, sagt er. Während Silke danebensitzt und lacht. Wie sie das oft macht, wenn es um ihren Tod geht. Kalle bewundert Silke dafür, dass sie das alles aushält. Er weiß, dass das nicht ewig so weitergehen wird. Dass sie nicht mehr leben möchte, wenn sie ihre kleine Familie nicht mehr erkennt, ihre Letizia und ihren Kalle. Das hat sie Kalle gesagt. Sterbehilfe. In der Schweiz oder in den Niederlanden. Kalle musste Silke versprechen, sie dabei zu unterstützen.

Ein Versprechen, das er ihr gegeben hat, lange bevor beide beschlossen, sich auch das andere Versprechen zu geben. Das Versprechen, das sie beide schon anderen gegeben hatten, nur dass das damals nicht so richtig gestimmt hat, die Sache mit den guten und den schlechten Tagen.

Rosen statt Reis

Zwei Wochen nach dem Termin auf dem Pfarramt stehen Silke und Kalle am Altar. Kalle mit Letizia an der Hand und im silbergrauen Anzug, Silke in dem weißen Kleid aus dem Versandhaus. Dann spielt eine Orgel, ein Dutzend Hochzeitsgäste singt ein Lied, der Pfarrer hält seine Predigt, liest aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther, Silke und Kalle schauen sich in die Augen, „ja, ich will“, zweimal, der Pfarrer geht voraus, Letizia wirft Rosen, keinen Reis.

Es ist einer schöner Tag, vielleicht ist es wirklich der schönste ihres Lebens. Silke hofft, dass sie ihn nicht so schnell vergisst.

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